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Kirche in der Welt
Mit Blick auf die Korea-Reise von Papst Franziskus im August – das Kkottongnae-Zentrum in Seoul

Eine brennende Kerze mitten unter den Obdachlosen

Eine brennende Kerze mitten unter den Obdachlosen
Von Cristian Martini Grimaldi aus Seoul

Gleich neben einer der Gruppen, die in dem zentral gelegenen und noch jungen Stadtviertel Hongdae Spenden für die vom Untergang der Fähre Sewol am vergangenen 16. April betroffenen Familien sammelten, hatte sich ein Obdachloser niedergelassen. Er hielt eine angezündete Kerze in der Hand, vielleicht in der Hoffnung, dass die Passanten, die vorbeikamen und ein paar Münzen für die Opfer des Fährunglücks spendeten, ihm ebensoviel Beachtung schenken würden. Er saß da, die Kerze in der Hand, aber niemand nahm ihn zur Kenntnis.

Niemand kümmert sich um die Obdachlosen von Seoul, die sich wie in jeder anderen großen Metropole vor allem in der Gegend um den Hauptbahnhof aufhalten. Nein, wenn wir die Wahrheit sagen wollen: fast niemand. Denn in einem Außenbezirk der koreanischen Hauptstadt gibt es das »Kkottongnae-Zentrum«. Es wird getragen von der gleichnamigen Gemeinschaft, die 1976 von P. John Oh Woong-Jin nach einer von der Vorsehung herbeigeführten Begegnung mit einem Obdachlosen gegründet wurde. Jeden Dienstag Abend kommen die freiwilligen Helfer der Gemeinschaft zum Bahnhof, um nach den kränksten dieser Menschen ohne festen Wohnsitz Ausschau zu halten. Da die meisten von ihnen alkoholisiert sind, muss man sich zunächst darum kümmern. In dem Zentrum, das anderthalb Stunden von der Hauptstadt entfernt liegt, können über 200 von ihnen aufgenommen werden.

Die Modernisierung hat die Welt der Arbeit zu immer schnelleren Abläufen gezwungen: um Schritt zu halten, muss man sich kontinuierlich anpassen, und dabei kommen nicht alle mit. Während es in der traditionellen Gesellschaft das Sozialgefüge war, das mit der klaren Zugehörigkeit zu bestimmten Bereichen oder Klassen die Identität des Individuums prägte, zugleich aber auch als soziales Netz fungierte – ein Vaterland, eine Familie, eine Religion –, knüpft der moderne Mensch seine Bindungen selbst, schafft sich in voller Autonomie seine jeweilige Identität, die freier und flexibler gestaltet werden kann, die zugleich aber auch viel zerbrechlicher ist: wir leben im Zeitalter des Individualismus.

Das eigene Leben autonom zu führen, ist nicht jedermanns Sache. Viele kommen bei diesem alltäglichen Kampf unter die Räder des leistungsorientierten Getriebes, und da es kein Sicherheitsnetz gibt, sind sie von einem Tag auf den anderen auf sich gestellt und allein. Der größte soziale Abgrund unserer Zeit klafft nicht mehr zwischen Arm und Reich, sondern zwischen denen, die auf die Rückendeckung durch Familie und Gesellschaft zählen können, um weiter hoffen zu können, auch wenn es ihnen an Geld und Arbeit fehlt, und jenen, die sich – im Stich gelassen von der Familie, von der Gesellschaft und vom Wohlfahrtsstaat –gezwungen sehen, auf den Straßen zu betteln und in jenen Durchgangszentren wie Zug- oder Busbahnhöfen zu schlafen, wo sie zwar einen Unterschlupf finden, aber stets ums Überleben kämpfen müssen: die Lebenserwartung eines Obdachlosen liegt bei nur 45 Jahren (in der Zentralafrikanischen Republik, die in den vergangenen Monaten aufgrund der gewalttätigen ethnischen Auseinandersetzungen in die Schlagzeilen geriet, liegt die Lebenserwartung bei 48,5 Jahren).

Und daher fragt man sich unwillkürlich, was wirklich eine Tragödie ist. Ist es das Fernsehen, das definiert, was Tragödien sind? Sind es die Titelseiten der Zeitungen? Der Schiffbruch der Fähre Sewol, die vor der Südostküste der koreanischen Halbinsel unterging, erfolgte geographisch gesehen sehr weit weg, ging unseren Gewissen aber doch sehr nah: Nachrichtensendungen und Tageszeitungen reden unentwegt darüber, der Tod Hunderter junger Leben berührt uns alle. Aber diese Obdachlosen auf den Straßen sind uns physisch ganz nah, und doch berühren sie unser Gewissen in keiner Weise. Wir sind an die Vorstellung gewöhnt, dass sie sich selbst überlassen bleiben. [...]
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